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Habent sua fata libelli - das Jahr 2019 in Büchern


KOG

Empfohlene Beiträge

Als protreptischen Kunstgriff der Selbstachtsamkeit sowie der unvermeidlich sich anschließenden sardonisch-amüsierten Prüfung habe ich mir dieses Jahr auferlegt, nachzuhalten, welche Bücher zu welchen verheißungsvollen Tagen ihren Inhalt mal leise wispernd, mal im Ungefähren verbleibend raunend, mal im gräßlichstem Diskant krächzend zur Gänze verlautbaren. Mein Fazit sieht in gewohnt launiger Manier auszugsweise wie folgt aus:

 

Das Sachbuch als Dörrleiche oder: pecunia olet

 

Der behende Universaldilettant der Gegenwart, im besten kraus'schen Sinn mehr gunst- als kunstbeflissen, weiß um die Wirkmächtigkeit der C.H.Beck-Reihe Wissen: auf grob 120 Seiten wird ein Thema, eine Person, ein Phänomen in aller gebotenen Kürze dargestellt. Wiewohl Theophanien der Art, wie sie sich erst nach jahrzehntelangem Studium in stockfleckenverseuchten Katakomben ergeben, dabei notgedrungen ausbleiben, kann es doch überaus erhellend sein, in der Spanne weniger Stunden einen Parforceritt gediegener Bildung hinter sich zu bringen. Beim Verfertigen eines solchen Büchleins zeigt sich denn auch in gebündelter Manier das Geschick eines Autors (manchmal auch: der Autoren), das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen, sowohl hinsichtlich sperriger Informationen als auch eher akademisch relevanter Teilfragen (im Sinne von Spezialthemen wie, meinetwegen, rezeptionsästhetische Gouvernementalitätskritik im Nachklang des Taiping-Aufstandes).

 

Der unscheinbare Band Münzen von Bernd Kluge setzt einen Untertitel, der mit Schalmeienklang wohlwollend umschrieben ist: "Eine Geschichte [!] von der Antike bis zur Gegenwart". Im Vorwort heißt es denn noch, dass die "Kunst des Weglassens und Beschränkens" der Leitstern beim Schreiben gewesen sein soll, um "große[] Entwicklungslinien" aufzuzeigen. Das Inhaltsverzeichnis macht gleichfalls einen vielversprechenden Eindruck, auch das erste Kapitel "Münze und Geld - Grundbegriffe der Numismatik" ist sichtlich bemüht, reine Daten und einbettende Erklärungen in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen sowie Propädeutik (mitsamt Vokabular) auf ein angemessenes Maß zurechtzustutzen. Hernach allerdings wird der Fachhuberei sämtlicher Platz eingeräumt, von "Entwicklungslinien", geschweige denn einer "Geschichte" (im Sinne einer abgeschlossenen, sinnstiftenden Erzählung) kann nicht im Ansatz die Rede sein. Man erfährt, wieviele Quadranten für Asse, Dupondien für Sesterze und Denare für einen Aureus unter der Herrschaft des verstorbenen Kaiser Augustus abverlangt worden sind, wieviele Grammata aufgewogen werden mussten für anderthalb Solidus und was dies für unsere gram- und grammbezogene Nomenklatur bedeutet, wie das Verhältnis von syrischem Karat zum Mitkal die aufwühlende Verflechtung von Dinar und Dirham im siebten Jahrhundert transparent werden lässt, wieviel Gramm Gold (auf fünf Nachkommastellen genau) in diversen Markstücken des neunzehnten Jahrhunderts steckte und in welchem Taler-Fuß derselbe 1566 gemünzt worden ist.

 

Die versprochenen und für ein Laienpublikum zweifelsohne interessanten Geschichten (wie hat in den USA die "Silberlobby" letztlich den Goldmünzen ein indigniertes Ende bereitet und warum? Warum ist 1130 der Krone die Kontrolle über das Münzwesen entglitten? Wie konnte Peter der Große das "eigentliche" Münzsystem in Russland einführen, warum geschah das nicht zuvor?) werden allenfalls in Halbsätzen angeschnitten und zugunsten des endlosen Verschüttens von Zettelkästen hintangestellt. Das genuine numismatische Publikum mag im vorliegenden Band eine brauchbare, wohlstrukturierte Abhandlung zu zentralen Rahmendaten finden (wohlig seufzend ist Dr. Kranich aus Thomas Manns Dr. Faustus zu vernehmen ob des endgültigen Ausfindigmachens seines Ressorts), die Präsentation und Zielgruppenansprache versprechen indes eine gänzlich andere Stoßrichtung. Insofern nach meinem Dafürhalten einer der enttäuschendsten Einträge dieser normalerweise so prestigeträchtigen Unternehmung.

 

Ebenfalls nicht mit Ruhm bekleckert hat sich Hans-Joachim Kertscher mit seiner Christian-Wolff-Biographie, auf die ich nach einer gewogen positiven FAZ-Rezension gespannt gewesen bin. Bedauerlicherweise stehen praktisch alle interessanten Erkenntnisse bereits in der Rezension, der Rest der Abhandlung enthält Beschreibungen der Städte Leipzig, Halle und Marburg, um irgendwie die Illusion zu erwecken, die ganzen Fördermittel für ein honettes Buch aufgebracht zu haben. Angesichts der kaum zu unterschätzenden Bedeutung Wolffs für die (frühe) Aufklärung bleibt eine brauchbare Schrift über denselben auf unbestimmte Zeit Desiderat.

 

Interpretatio graecae; wie Anagnost, Thuribulum, Omophagie, Proszenium und Stridulation korrekt eingeführt werden

 

Das Gegenstück zum obigen Reinfall auf der Sachbuchebene stellt Michael Andre-Driussis Lexicon Urthus. A Dictionary For The Urth Cycle dar, das schon augenfällig im Titel verkündet, dass den Leser eine nüchterne Kärrnerarbeit erwartet, die sich vornehm mit Wertungen zurückhält und lediglich behutsames Zurechtrücken des Wolfe'schen Paravents anbietet. Es geschieht selten, dass ich mir Sekundärliteratur zulege, das Book of the New Sun hat mich infolge seines überaus ambitionierten, somnambulen, anspielungsreichen Maßstabs und seiner einmaligen elocutio allerdings so sehr in den Bann gezogen, dass mir Schützenhilfe zum weiteren Genuß (sintemalen in den kommenden Jahren, wenn ich die Serie erneut in Angriff nehmen werde) angemessen schien. Hier treffen Form und Funktion schnörkellos aufeinander, es wird keine Gaukelei betrieben, keine Konturen oder ergebnisorientierte Leitfäden angepriesen, sondern die Informationskaskade ist von vornherein sichtbar auch der Genotyp. So soll es sein.

 

Feminine Plesiomorphie - Wolff ist nicht Wolf ist nicht Wolfe und Miller nicht Butler

 

Einer der nach meinem Kenntnisstand am lautstärksten gelobte Fantasyroman des vergangenen Jahres (d.i. 2018) ist Madeline Millers Circe - selbst nach flüchtigem Studium der Begründung sah ich mich einer fürchterlichen Zwickmühle ausgesetzt: einerseits fasziniert mich griechische Mythologie seit den frühen Tagen, da Gustav Schwab seine sagenhaften Erzählfäden mit meisterlicher Hand entrollte, andererseits war der letzte feministische Wurf mit demselben Topos, dem ich eine Chance gegeben hatte, Christa Wolfs durch und durch erbärmliche Kassandra. Eingedenk des Umstandes, dass das US-amerikanische Publikum ohnehin einen gesteigerten Wert auf das Durchwaten der mikroaggressiven (ganz zu schweigen von den nano-, piko- und attoaggressiven!) Moraste legt, war mir gleich doppelt mulmig zumute. Dazu noch der Umstand, dass Circe aus der Ich-Perspektive erzählt wird, was ebenfalls nicht unbedingt meinen Geschmack trifft.

 

Allein, um die berühmte Passage aus Vergils Georgica zu zitieren, derer sich schon William Pitt der Jüngere bediente: nos primus equis oriens afflavit anhelis; illic sera rubens accendit lumina vesper. Ehre, wem Ehre gebührt, dieses Buch ist ausgezeichnet. Die Darstellung der diversen Götter, Kreaturen und Titanen aus dem Pantheon begnügt sich nicht damit, das Erhabene, Strahlende, Ehrfurchtgebietende aufzuzeigen, ganz im Gegenteil wird der ernsthafte Versuch unternommen, das durch und durch Fremde, Unheimliche und Amoralische, das mit einer solchen Seinsstufe koinzidiert, zu vollem Effekt aufzubringen. Wie etwa bei Steve Erikson wird hier die Metapher, das Sinnbild, die folkloristische Geschichte lebendig, mit einem bemerkenswerten Respekt auch dort, wo Charaktere ohnmächtig, kleingeistig und niederträchtig sind. Wiewohl sich der Roman sicherlich auch feministisch lesen und deuten lässt, ist die Frage der Identität und Moralität doch die eigentlich treibende, alles in einem eminent erwachsenen, reifen Stil (inhaltlich, strukturell, sprachlich) vorgetragen.

 

Alfred Russel Wallace oder David Foster Wallace? Evolution & Revolution

 

Meine zweite überaus positive Überraschung in Sachen Fantasyliteratur war Scott Hawkins' The Library at Mount Char, welches ich recht eigentlich nur als wundervoll skurril bezeichnen kann. Wenn ich es überhaupt mit etwas vergleichen müsste, dann mit dem in der Überschrift herbeigerufenen David Foster Wallace, der kunstvoll-verspielten postmodernistischen Auflösung von Genrekonventionen wegen. Erzählton und Inhalt wechseln unentwegt, erschütternd emotionale, tiefschürfende Szenen stehen gleichberechtigt neben anarchistischen, extrem lustigen Vignetten; lange, intelligente Dialoge und Beschreibungen folgen auf idiomatische Konversationen im Telegraphenstil, das Profane und Numinose werden ungeachtet ihres Ansehens behandelt. Die beeindruckende Leistung hierbei ist, dass nie Frustration oder der Eindruck von Dekohärenz entsteht, trotz der Gemengelage an verschiedenen Tönen und Instrumenten handelt es sich unverkennbar um ein zusammengehörendes Orchester. Erfrischend!

 

Große Denker, großer Jargon? Die Pest über die eisernen Zwerge!

 

Anders als die eingangs erwähnte C.H.Beck-Reihe Wissen, bei der nach meiner Erfahrung negative Ausreißer aufgrund ihrer relativen Seltenheit bitterlich bemerkbar werden, oszilliert die Beck'sche Reihe Denker seit jeher zwischen exzellenten Biographien, die nicht nur einen konzisen Zugriff zu dem behandelten Mann (da sind sie wieder, die Mikroaggressionen) des Geistes (in der Regel - allerdings nicht immer - ein Philosoph) ermöglichen, sondern zugleich eine Tapisserie der intellektuellen Rahmenbedingungen seiner Zeit zeichnen, zum Teil sogar noch verknüpft mit spezifischen politischen, sozialen, ökonomischen Begleiterscheinungen. Beispiele hierfür waren dieses Jahr für mich Wolfgang Krohns Francis Bacon sowie Thomas Hobbes des fabelhaften Otfried Höffe. Beides brillante Denker, deren Schärfe und Lust an der geschliffenen Sentenz nichts an ihrer Eindringlichkeit verloren hat, und die, ihren Schwächen zum Trotz (wie z.B. Hobbes' geradezu wunderliche Insistenz, sich als Mathematiker zu versuchen, obschon ihm dazu allem Anschein nach jegliches Talent fehlte), allerhand urwüchsige Einsichten zur Architektur menschlichen Denkens und seiner (des Menschen) Gepflogenheiten hatten, die nach wie vor wert sind, beherzigt zu werden.

 

Klaus Oehlers Peirce-Biographie und Wolfgang Bartuschats Pendant zu Baruch de Spinoza hingegen sind deutlich stärker dem monographisch monomanen Fachpublikum zugeneigt - beiden Werken sind auch breitere Pinselstreiche zu eigen, der Fokus liegt allerdings auf schmalen Korridoren in den Minen der abstrakten Philosophie, um nur wenige Schätze zu heben, diese allerdings aus hoher Saigerteufe. Nachgerade im Fall Spinoza ist das nur allzu verständlich, für meinen Teil hätte ich allerdings lieber eine etwas breitere Darstellung in Bezug etwa auf die Werkrezeption als auch die politischen, religiösen und epistemologischen Schlußfolgerungen gesehen als eine dergestalt feingliedrige Darlegung u.a. der Affektenlehre. Gleichwohl kann ich das Vorgehen des Autors zumindest nachvollziehen, Oehlers verschraubte Darstellung des Peirce'schen Denkens allerdings war partienweise schon ermüdend.

 

"Auf einer Tafel kann man nur etwas Neues schreiben, wenn man das Alte ausgelöscht hat; im Geist kann man das Alte nur auslöschen, wenn man etwas Neues hineingeschrieben hat" - gelungene Überleitungen & grandiose Synthesen

 

Interdisziplinarität lässt drittmittelentwöhnte Zungen geschmeidig werden, verfolgt nichtsdestominder selten hehre erkenntnisfördernde Ziele, die der so spannungsreichen Verflechtung innewohnen könnte. Umso erfreulicher, wenn derartige Projekte dennoch gelingen: Sabine Hossenfelders Lost in Math: How Beauty Leads Physics Astray, Fynn Ole Englers & Jürgen Renns Gespaltene Vernunft. Vom Ende eines Dialogs zwischen Wissenschaft und Philosophie sowie Robert J. Shillers Narrative Economics. How Stories Go Viral & Drive Major Economic Events haben mir dieses Jahr besonders zugesagt.

 

Es ließe sich zuungunsten von Hossenfelder anführen, dass der informelle Gesprächston (inklusive der zitierten Interviews mit allerlei anderen Physikern) und die Neigung zur Wiederholung ein wenig den Kern des Unterfangens abzuschaben geeignet sind, nach meinem Dafürhalten profitiert der Cantus firmus im vorliegenden Format sogar noch davon. Gerade der Umstand, dass ein ganzer Reigen von unbestreitbar hochintelligenten Köpfen zur Sprache kommt, mit Fraktionen, die unbekümmert mit Annahmen hantieren, welche ihrerseits von anderen Gruppen entsetzt abgelehnt werden, macht den Reiz des Buches aus. George Ellis' (seines Zeichens anerkannte Koryphäe nicht nur in der Kosmologie, sondern auch in der Biologie und Chemie bewandert) wissenschafts- und erkenntnistheoretische Einwände gegenüber bestimmten Interpretationen der Quantenmechanik im Besonderen haben mir imponiert - Hossenfelders entwaffnende Ehrlichkeit und offensichtliche Leidenschaft für ihr Feld verleihen den nährreichen Funden das nötige Skelett. Naturgemäß kann ich als enthusiastischer Laie nach wie vor nicht behaupten, einen Schritt weiter gekommen zu sein, für mich ist das allerdings ein gehöriger Teil des Vergnügens, was die Physik anbelangt.

 

In eine etwas andere Kerbe schlägt das verdienstvolle Buch von Engler und Renn. Mit Fleck, Kuhn und Popper war ich bereits vor der Lektüre gut vertraut, Moritz Schlick (und ein paar der anderen vertretenen Personen) war mir allerdings zuvor kein Begriff - eine ausgemachte Schande, wenn man bedenkt, dass es sich bei ihm ebenfalls um eines derjenigen Ausnahmetalente handelt, das unbeschwert in mehreren Welten zu Hause gewesen ist. Ausgehend von den abgedruckten Briefwechseln war Einstein selbst ungeheuer beeindruckt von Schlicks intuitivem Verständnis davon, was die Relativitätstheorie für nachhallende Folgen für die gesamte Konzeption der erkenntnistheoretischen Physik haben sollte. Gerade weil dieser Tage Konzepte wie die Fleck'schen Denkstile, die Kuhn'schen Paradigmata und Poppers kritischer Rationalismus geläufig(er) sind, ist es überaus bereichernd, die Schlick'sche Abwandlung an den Positivismus zu lesen. Ob man dem wehmütigen Unterton des Buches in Anbetracht von Abhandlungen wie der obigen zustimmen muss, sei dahingestellt, das Schneisenschlagen im ansonsten doch recht unerforschten Hain dieses Teils der Wissenschaftsgeschichte als solches ist jedoch ungemein wertvoll.

 

Shillers Narrative Economics hinwiederum wird vermutlich den Pratchett-Freunden unter uns unmittelbar einleuchtend erscheinen, ob die Bezeichnung uns'rer Spezies nun homo narrator, homo narrans oder pan narrans (Pratchetts bevorzugte Variante) lautet. Im Wesentlichen wird hier ein relativ simples Konstrukt aus der Epidemiologie, das SIR-Modell (das die Verbreitung von ansteckenden Krankheiten bei gleichzeitiger Immunitätsbildung mathematisch untersucht), auf die Rolle der Fama* im wirtschaftlichen Treiben untersucht - regional, national, transnational, auf Produkteinführungen/Innovationen bezogen einerseits und volkswirtschaftliche Entwicklungen beobachtend andererseits. Ironischerweise konnte ich deswegen hier die Antwort auf meine Frage weiter oben erhalten, wie es sich denn nun mit dem erbitterten Scharmützel zwischen Bimetallismus und Goldstandard in den USA zugetragen hat. Die angelsächsische Tendenz, ein, zwei nicht unbedingt unbotmäßig komplexe Gedanken über unzählige Beispiele wieder und wieder zu vertiefen, hält mich davon ab, die allerhöchsten Weihen auszusprechen, der Fußnotenapparat und die Einzelfälle selbst waren dennoch in der Lage, durchgehend mein Interesse zu halten, weswegen ich es immer noch mit bestem Gewissen zu den lehrreichsten Sachbüchern des Jahres zählen kann.

 

*Und wie ich es so aufschreibe, fällt mir just auf, dass ich ebensogut den Genitiv Singular hätte wählen können, gehört der Eugene doch nicht nur zum Ionesco - bisweilen schreckt mich mein assoziatives Rhizom-Vermögen selbst.

 

"Gelehrt, sagt man, ist derjenige, welcher vieles weiss, was andere gewusst haben, welcher viel gelesen, viel excerpirt, höchstens viel behalten hat" - Blicke innerhalb des Tellerrandes

 

Wenngleich ausgedehnte, Grenzen missachtende Ausflüge auf der Karte menschlichen Wissens köstliche Effekte zeitigen können, bleibt die Bedeutung solider Kenntnisse des eigenen Feldes doch unangefochten. Alle gelungenen Sachbücher in extenso aufzulisten dauerte zu lange, darum nur ein kursorisches Aufzählen einiger Kandidaten:

Rainer Nickels Xenophon. Leben und Werk war haargenau so, wie ich es mir vorgestellt habe - staubtrocken im besten Sinne des Wortes. Beim Lesen althistorischer wie philologischer Elukubrationen erwarte ich pflichtschuldigst einen gleichsam klassizistischen Schreibstil ohne Rücksichtnahme auf unbeleckte Leser, ein Autor eines solchen Bildungserweises meldet sich auch bei der Hotelrezeption mit wohlklingendem Hexameter an.

Thomas Mayers Die neue Ordnung des Geldes verschmilzt die praktisch wie theoretisch fundierte Expertise des Schreiberlings mit dessen aus jeder Zeile ersichtlichen Passion und Besorgnis in der Sache, ein Aktivgeldsystem einzuführen, das diesen Namen verdient, um politischen Liberalismus auch wirtschaftlich umzusetzen. Zwar stimme ich nicht in allen Facetten zu, die enorme Qualität des Buchs wird dadurch indes nicht im Mindesten geschmälert.

Daniel Kahnemans Klassiker Thinking, Fast and Slow verdient all seine Panegyriken - interessanterweise habe ich ein paar der Bücher des Antipoden Gigerenzer zuvor gelesen, und in einer Zuspitzung existentialistischer Paradoxie stimme ich sogar beiden zu. Kahnemans Sammlung (die Kapitel sind in der Regel selbstständige Einheiten, weswegen sich konstante Überschneidungen ergeben) hätte wohl etwas getrimmt werden können, auf der anderen Seite liefert er tiefergehende Fußnoten, in der u.a. bayesianische Statistik die sonst in der Regel qualitativen Argumente untermauert, d.h. der Tiefe der Erkenntnis kommt es ebenfalls zugute.

Als Antidot zu dem schwachen C.H.Beck-Wissenbändchen von weiter oben kann ich Claudia Zeys Der Investiturstreit & Hans-Ulrich Thamers Die französische Revolution nur wärmstens empfehlen, beides exzellente Vertreter der Reihe, die jede der nur wenigen zur Verfügung stehenden Seiten beneidenswert zu nutzen verstehen.

Abschließend loben möchte ich an dieser Stelle Dominik Gepperts Die Ära Adenauer, welches vorzüglich die hochgradig angespannte Situation nachzeichnet, in der sich die bundesrepublikanische Politik in seiner Inzeption befunden hat, sowohl die externen als auch die internen Zwänge werden beklemmend deutlich gemacht, ebenso der graduelle und dann schlagartige Wandel ab der Ende der fünfziger Jahre. Julia Angsters Die Bundesrepublik Deutschland 1963-1982 hingegen würde ich als enttäuschend mittelmäßig bezeichnen wollen, zu viele Auslassungen (das erwähnte Spannungsfeld, das die Erhard-Regierung aufgenommen hat, wird lediglich vage umrissen, Kiesingers Regierungszeit kommt fast überhaupt nicht vor, auf das intellektuelle und sozialpolitische Umfeld der Brandtära wird ebenfalls nur sporadisch eingegangen...) lassen das Buch eher wie eine kompetente Aneinanderreihung von prominenten Ereignissen wirken, wie es etwa in einer Sonderausgabe vom Spiegel oder der Zeit gehandhabt wird, weniger wie eine anspruchsvolle Analyse der spezifischen Hürden und Herausforderungen der jeweiligen Zeitläufte.

 

Zurecht vergessene Klassiker (?): als Baumbart Zollinspektor war

 

Angeregt von Umberto Eco daselbst, habe ich für ein paar Groschen (grossi matapani oder ducati argenti) ein antiquarisches Exemplar von Ludwig Holbergs Niels Klims unterirdische Reise erstanden, vom Meister als superiorer Nachfolger von Jonathan Swifts allseits bekannter Satire angepriesen. Zugestehen will ich, dass ein paar interessante Ideen/Gesellschaftsskizzen/Gedankenexperimente auftauchen (Folie für das Geschehen ist dies' knorrige Volk von Baummenschen, verwurzelt in allerlei holzschnittartigen Episoden; in einem Dorf sind beispielsweise die Frauenzimmer das starke Geschlecht, lassen männlichen Unsinn mithin im Unterholz wuchern, ins Kraut schießen), ein paar der beißenderen Stellen (etwa über europäische Gelehrsamkeit) waren sogar fast lustig, als zusammengehöriger Text ist das allerdings nicht wirklich interessant oder spannend. Besser als, sagen wir, Johann Karl Wezels schröcklicher Belphegor, dafür tauchen nirgendwo Preziositäten wie turlepinieren, abrutieren oder das unvergleichliche naupengeheuerlich auf. Respektvoll rufe ich also Eco ein "Indignor, quandoque bonus dormitat Homerus" zu und lasse es dabei bewenden.

 

Serielle Irrungen und Wirrungen - Piraterie und andere Beschäftigungen von Welt

 

Meine Lieblingsserie (wiederum im Fantasygenre verortet) dieses Jahr war Paul Kearneys hervorragende Monarchies of God-Pentalogie. Eilig möchte ich hinzufügen, dass der letzte Teil davon ausgenommen ist, allerdings weitgehend ignoriert werden kann, da er etliche Jahre nach den Ereignissen der ersten vier Bände spielt. Wem Erikson oder Bakker zu voluminös, ungegenständlich und komplex ist, wer aber dessen ungeachtet düstere, elaboriert beschriebene, zentrale Themen behandelnde Fantasy in Angriff nehmen möchte, die regelmäßig in Action umschlägt und ein sehr geschicktes Händchen für Horrorversatzstücke aufweist, ist hier bestens bedient. Wie der Kohlenmunk-Peter in Wilhelm Hauffs Märchen habe ich mein Herz schon lange für die wahren Genüße im Leben eingetauscht, beim Ende vom vierten Buch überkamen mich gleichwohl ungeahnte Gefühle - mit weitem Abstand der emotionalste Moment in Sachen Literatur in diesem Jahr.

 

Da wir schon bei Xenophon gewesen sind: Kearney hat auch eine an der Anabasis angelehnte Trilogie verfasst, deren ersten zwei Bücher ich durchgelesen habe. Immer noch überdurchschnittliche Prosa, allerdings arg vorhersehbar und nicht besonders reich an wie auch immer gelagerten Höhepunkten. Ich werde den letzten Teil noch durcharbeiten, würde es aber prima facie nur lauwarm empfehlen.

 

Wem das etwas zu trostlos ist, der kann sich auch auf Scott Lynchs Gentleman Bastards-Reihe stürzen, allerdings gibt es da bisher nur drei (von voraussichtlich sieben) Bände. Wie bei Patrick Rothfuss bin ich mir nicht sicher, ob die Rahmenhandlung ein vollends zufriedenstellendes Ende finden wird, selbst wenn es zu einem Abschluss kommen sollte, die vor Esprit sprühenden Charaktere reichen mir aber voll und ganz aus. Das erste Buch lässt sich überdies als abgeschlossener Spannungsbogen lesen, dementsprechend ist der Verlust kein großer, wenn es mißhagen sollte. Besonders gefällt mir hier das bestechende Augenmerk auf Kleinigkeiten; die Protagonisten sind von Berufs wegen langfingrig beschäftigt und achten folgerichtig auch und nachgerade auf subtile Zeichen. Die Erzählperspektive ist daran angepasst ungeheuer perzeptiv, was immens hilfreich dafür ist, sich in das Universum einzufinden. Hinzu stößt, dass etliche der Eskapaden im Maßstab kosmischer Anschauung von untergeordneter Bedeutung sind, was ich in Abgrenzung zu den oftmals über Wohl und Wehe des gesamten Menschengeschlechts entscheidenden Taten anderer Fantasyromane als erquickend empfunden habe.

 

 

 

Alles in allem also ein erfolgreiches Jahr für mich, mit nur wenigen regelrechten Ernüchterungen. Umso begieriger bin ich, zu hören, was die anderen Herrschaften zu berichten haben!

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TL;DR :D

 

Stilkritik:

Schreib mal nicht so einen Wust an Text. Jeder einzelne Absatz ist lesenswert, aber in der Masse ist es einfach erschlagend. In der Druckansicht entpuppt sich dein Artikel als ein fast achtseitiger Text. A4, wohlgemerkt. Niemand bringt vernünftigerweise acht Seiten Text auf einer einzigen Seite unter. Zumindest niemand, der seinen Text gern gelesen hätte und ihn nicht von vornherein als Übung im Tastaturschreiben verfaßt hat.

 

Also: Schreib im Interesse der Lesbarkeit bitte mehrere kleinere Posts statt eines großen. Selbst Wittgenstein hat sein opus magnus untergliedert. Zumindest für die, die ihn zu lesen verstehen :D

 

...

 

Ich finde es ja krass, daß du freiwillig feministische Bücher liest. Respektive Werke feministisch schreibender Autorinnen. Muß man sich das wirklich antun...? ;D

 

Unfreiwillig erheiternd ist deine irrige Annahme, Christa Wolffs "Kassandra" wäre Fantasyliteratur. ;D

 

Ja. nein. Also formal kommt das Werk schon im Gewande eines Fantasyromanes daher. Ab hier scheiden sich die Leser:

Wer westdeutsch sozialisiert ist, hält "Kassandra" für einen Fantasyroman. Einen schlechten. Von mir aus auch für einen schlechten feministischen (Fantasy)Roman. Da können Westdeutsche nichts dafür. Ihnen fehlt einfach die ostdeutsche Sozialisation, die Diktaturerfahrung, das "zwischen den Zeilen lesen können", der Schlüssel zur richtigen Deutung intellektueller Werke von DDR-Autorinnen und -Autoren. Nicht dein Fehler, du kannst nichts dafür. Die DDR ist Vergangenheit, und niemand hat dich in ihre Kulturtechniken eingeweiht. Von daher ist dein Entsetzen über das "feministische Machwerk" einfach ungewollt komisch, zumindest für einen Ex-DDR-Bürger :D

 

Als Ostdeutscher liest man das Werk anders, mit der sozialismuskritischen Schablone darunter. Dingen, die offiziell nicht existieren, die man aber weiß. Manchmal im privaten Kreis ausspricht, oder auch nicht. Kassandra und die Fantasy sind nur die Form. Der Inhalt ist als Gesellschaftskritik zu lesen, zumindest in Ansätzen. So weit, wie Christa Wollf sich halt an dieser Stelle und in diesem Buch getraut hat, kritisch zu sein und sich aus dem Fenster zu lehnen. Ein wenig hat sie es getan. Viel war es nicht. das wurde ihr dann auch vorgehalten. Schon zu DDR-Zeiten, und nach Ende der DDR erst recht. Wofür man sie nie kritisisert hat, richtigerweise, ist, eine schlechte Fantasyautorin gewesen zu sein. Darum ging es bei dem Buch nie, und das hat jeder DDR-Bürger auch so verstanden.

Tip: Betrachte deine Erfahrung mit dem "mißratenen" Werk als Lektion, Literatur aus der DDR, dem Ostblock, wahrscheinlich aus allen Diktaturen und Theokratien dieser Welt im Kontext mit den Umständen ihrer Entstehung zu lesen und auf eine möglicherweise vorhandene gesellschaftskritische Subebene zu achten. Manchmal ist ein Buch nur ein Buch, aber manchmal ist es auch eine Gesellschaftskritik und ein Zeitzeuge, den die Mitbürger des Autors zu lesen und zu deuten verstanden.

 

Gruß NogegoN

bearbeitet von NogegoN

2+2=5 (für große Werte von 2) **** Titan of Ether
Bei deinem P500 wird min 1 NSA Computer drüber drehen. Aufbau einer neuen iranische Streitmacht, innerhalb von 6 Monaten auf Brigadestärke, mit deutschen know how. Dazu wird noch versucht vor US-Geheimdiensten zu vertuschen und ein eventueller Angriff auf die Türkei geplant.
Herz der Finsternis Cold War Commander Herz der Finsternis reloaded

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